Was ist eigentlich ein Swami?
Von Menschen, die sich selbst gehören. Und einem Ort des Dazwischen.
Knallorange leuchtet vor uns die untergehende Sonne. Ich sitze im Taxi, und wir sind nur noch ca. 10 Kilometer von meinem Ziel entfernt: Tiruvannamalai. Das ist - nach der zweiwöchigen Ayurveda-Kur in Kerala - der eigentliche Höhepunkt meiner Indien-Reise. Ein zutiefst spiritueller Ort, an dem u.a. Ramana Maharshi gelebt hat.
Geprägt wird der Ort vom Arunachala, einem markanten, heiligen Berg. Und von einer, nach diesem Berg benannten, gewaltigen Tempelanlage, die Lord Shiva geweiht ist.
Und was ich erst vor ein paar Tagen gesehen habe: das Timing ist perfekt! In ein paar Tagen wird Vollmond sein. Dann machen sich hier alle auf, um den Berg zu umrunden. Darauf freue ich mich schon besonders!
Aber jetzt heißt es erst einmal, die Unterkunft zu finden. Und das ist gar nicht so einfach. Sie ist etwas am südwestlichen Ortsrand. Wir quetschen uns während der Rush hour im Schritttempo durch’s Stadtzentrum. Dann, je näher wir dem Ziel kommen, wird die Straße umso dürftiger. Irgendwann bleibt der Fahrer stehen. Hier kommen wir nicht mehr weiter. Jedenfalls nicht mehr mit Google Maps, obwohl es laut Karte nur maximal ein Kilometer bis zum Ziel sein kann. Der Fahrer fragt ein paar Passanten. Und einen Motorradfahrer. Alle sind bemüht, denken mit, überlegen. Aber niemand hat wirklich Orientierung.
Wir telefonieren mit der Vermieterin. Es dauert endlos. Die Vermieterin übergibt - wie ich später erfahre, das Gespräch irgendwann an einen Zimmergast, der denselben Dialekt spricht wie mein Fahrer. Aber das hilft leider auch nicht weiter.
Die Sonne ist inzwischen nicht mehr zu sehen und ich weiß, in spätestens einer halben Stunde ist es dunkel. Ich merke, dass ich jetzt selbst eine Entscheidung treffen muss. Ich bedanke mich höflich bei allen, und mache mich mit meinem Rucksack auf den Weg. Und vertraue auf Google Maps.
Rasch merke ich, warum der Fahrer nicht mehr weiter wollte. Der angezeigte Weg ist keine Straße mehr. Auch kein wirklicher Weg. Er verkümmert immer mehr zu einem Trampelpfad. Wie ein schmaler Wanderweg bei uns, bei dem man hintereinander gehen muss. Er führt mich über einen Fluss. Dann springe ich über mehrere Bäche (jetzt verstehe ich erst, warum auch der Motorradfahrer hier nicht fahren wollte). Komme an ein paar wilden Hunden vorbei, die mich verächtlich ankläffen. Überquere Wiesen und Felder, und habe nach ca. 15 Minuten tatsächlich meine Unterkunft vor Augen.
Uff. Zum Glück alles gut gegangen. Es wird gerade finster. Manchmal muss man sich auf den Weg machen, auch wenn alle anderen warnen.
Meine Vermieterin ist auch erleichtert, dass ich da bin. Sie wollte nicht, dass ich zu Fuß gehe, weil sie dachte, dass ich Koffer dabei habe. Aber ich reise nur mit ganz leichtem Gepäck. Und mit dem Rucksack war das wirklich kein Problem.
Dann ruft auch noch der Taxifahrer an. Er wollte sich erkundigen, ob ich eh gut angekommen bin. So nett.
Dann erst erklärt mir die Vermieterin, warum man hier aufpassen muss. Es gibt hier allerhand Getier. Affen. Schlangen. Skorpione. Im Dunkeln und ohne Licht sollte man da besser nicht unterwegs sein. Zum Glück erfahre ich das erst jetzt!
Die Unterkunft ist super. Und ich verstehe mich hervorragend mit der Vermieterin. Es stellt sich heraus, dass sie Spanierin ist und mit einem Inder verheiratet war. Sie ist Künstlerin, malt, macht Keramik. Hat zwei erwachsene Söhne - genau wie ich. Und wir interessieren uns beide für Zen. So haben wir sofort einen guten Draht zueinander.
Ich schlafe bestens. Hier ist es eine Spur kühler als noch in Kerala. Und am nächsten Tag mache ich mich auf, um den Ort zu erkunden.
Im Zentrum, ist wieder einiges los. Zahllose Menschen strömen auf den Straßen. Ein fantastisches, buntes Bild an Farben: überall Menschen in Saris, Sarongs und andere Kleidern in weiß, gelb, schwarz, orange, rot. Und die Geräuschkulisse! Ständig hupen die Autos, Tuk Tuks und Motorräder wild durcheinander. Und doch nimmt jeder auf jeden irgendwie Rücksicht.
Und viele »heilige Männer«, ganz in Orange und mit langem, weißen Bart. Mir fällt der Spruch des Taxifahrers ein, der gestern bei unserer Ankunft nebenbei sagte: »Many Swamis here.« Ja. Stimmt. Viele Swamis.
Was ist eigentlich ein Swami?
Ich merke, wie mein westlicher Kopf sofort Antworten sucht.
Titel. Definition. Rang. Rolle.
Aber Tiruvannamalai antwortet nicht so.
Ein Swami ist hier kein Zertifikat. Keine Visitenkarte. Kein Amt.
Eher: eine Erscheinung.
Oder noch genauer: ein Zustand.
Das Fehlen von Eile.
Das Fehlen von Dringlichkeit. Von Geschäftigkeit. Von Zielstrebigkeit.
Das Fehlen des Gefühls, irgendwo anders sein zu müssen.
Und nicht nur die Swamis sind so.
Auch die BettlerInnen wirken entspannt.
Gibst du mir was: fein.
Wenn nicht: auch gut.
Und: viele geben!
Und obwohl mich diese Männer in Orange beeindrucken, sind sie gar nicht spektakulär.
Sie predigen nicht.
Sie missionieren nicht.
Sie scheinen nichts zu wollen.
Sie sitzen. Sie gehen. Sie warten. Sie schauen.
Sie sind einfach da.
Später erfahre ich die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Swami“: der sich selbst gehört.
Nicht im Sinn von Besitz.
Sondern im Sinn von Freiheit.
Ein Swami ist jemand, der bei sich ist.
Jemand, der sich nicht mehr permanent verliert.
Nicht in Erwartungen.
Nicht in Rollen.
Nicht im Müssen.
Ganz anders die Sadhus, die man aus Bildern kennt.
Mit Asche bedeckt. Halb nackt. Radikal.
Sie haben der Welt den Rücken gekehrt.
Sie sind ausgestiegen.
Haben alles hinter sich gelassen.
Der Sadhu sagt: Ich gehe aus der Welt heraus.
Der Swami sagt eher: Ich bleibe, aber ich lasse mich nicht mehr von ihr antreiben und herumschubsen.
Das ist mein erster Eindruck von Tiruvannamalai.
Hier scheint es viele Menschen zu geben, die im Dazwischen sind.
Menschen, die einfach still geworden sind.
Oder langsamer.
Oder genügsamer.
Vielleicht sind das, was diesen Ort so besonders machen.
Nicht das Extreme.
Sondern das Dazwischen.
Ich gehe weiter durch die Straßen.
Beobachte.
Setze mich in ein Café.
Trinke einen Tee.
Und frage mich:
Muss man Orange tragen, um frei zu sein?
Und einen langen, weißen Bart haben?
Oder reicht es vielleicht, einfach nur da zu sein und Schritt für Schritt ein bisschen loszulassen? Abzugeben. Weniger zu tragen?
Vielleicht ist Tiruvannamalai kein Ort, an dem man etwas wird.
Sondern ein Ort, an dem man etwas lässt.
Etwas loslässt.
Aber ich bin ja noch ein paar Tage hier.
Zeit genug, um noch mehr Eindrücke zu sammeln.
Mal sehen, was sich noch zeigt.
Aber: die Menschen, die sich selbst gehören.
Das ist schon mal ein sehr guter Anfang.



Vielen Dank für Deine farbigen Schilderungen!
Ein starker Kontrast zu: der Garten weiß, leichter Schneefall, kein Mensch zu sehen;)!
Weiterhin gute Reise!!!
Einfach wunderbar. Habe mich sehr amüsiert über den Text und gedacht: Wie wahr, wie wahr!