Postkarte aus Tokio
Heute nehme ich dich mit auf eine kleine Reise – von der dichtesten Kreuzung der Welt zu einem Ort, an dem selbst die Zeit den Atem anhält.
Der Sommer in Tokio fühlt sich ganz speziell an. Selbst wenn es regnet, liegt die Hitze wie ein feuchtes Tuch auf deiner Haut.
In den Straßen drängeln sich zahllose Menschen und Fahrzeuge, Lärm, grelle Reklame, das Ticken von Ampeln.
In Shibuya überqueren zu Stoßzeiten tausende Menschen gleichzeitig die Kreuzung – ein choreografiertes Chaos.
Und doch, nur wenige Bahnstationen weiter, atmet dieselbe Stadt in einem ganz anderen Rhythmus.
Koenji: ein Viertel im Westen der Stadt. Immer noch zentral, aber mit vielen kleinen Häusern, Second-Hand-Läden, Fußgängern und Radfahrern, die sich in einem in freundlichem Nebeneinander bewegen.
Hier ist es, als hätte jemand den Lärmregler leiser und den Entspannungsregler höher gestellt.
Und in einer kleinen Seitenstraße führt eine enge Holztreppe hinauf - zu einem unscheinbaren Eingang. Das Portal zu einer anderen Welt: Aruza Dokushoukan.
Von außen unauffällig, drinnen ein Halbdunkel, an das sich die Augen erst gewöhnen müssen.
Viele Pflanzen, Regale voller Bücher und Schreibtische mit Sesseln. Sogar ein oder zwei kleine Aquarien.
Die Bedienung spricht, wenn überhaupt, im Flüsterton.
Innenraum des Aruza Dokushoukan – eine Mischung aus Bibliothek, Gewächshaus und Café
Kein Gespräch, kein Geräusch. Eine Atmosphäre, fast wie in einem Zendo.
Es ist, als ob Zeit hier nicht in Minuten, sondern in Atemzügen gemessen würde.
Teekanne und Tasse am Fensterplatz – Blick ins Grün
Ich sitze am Fenster, vor mir eine filigrane Teekanne, und ich fühle mich verzaubert.
Wo bin ich da gelandet? Draußen Tokio. Doch hier drinnen dehnt und verbiegt sich der Augenblick - ganz sanft und leise kichernd.
Ich muss daran denken, wie kostbar solche kleinen Oasen der Stille geworden sind. Und wie dringend wir sie brauchen. Nicht um zu entkommen, sondern um uns daran zu erinnern, dass wir auch ganz anders sein können.
Und wie es sich anfühlt, bei sich zu sein.
Und du?
Wo findest du in deinem Alltag diese kleinen Orte der Besinnung –
die nicht laut rufen, sondern leise einladen?
Orte, an denen du zu dir kommst, ohne dich von der Welt zu trennen?
Für mich war das Betreten des alten und großen städtischen Friedhofs durch eine Seitenpforte, kommend vom geschäftigen Treiben des Uni-Campus, so ein Übergang in eine andere Welt. Nach ein paar Schritten nur gedämpfte Geräusche, das Wechselspiel von Licht und Schatten unter großen Bäumen, meist kein Mensch zu sehen, geschwungene Wege, die an Bänken vorbeiführen, die zum kurzen Verweilen einladen. Durchatmen, die Vergewisserung, dass „das“ da draußen nicht alles ist….
Die Kiefer in unserem Innenhof, die Aare, das Wasser, das offene Fenster am Morgen, mit der ersten Tasse Sencha in den Händen, der Duft von Regen, Sonne, Erde, Mühe und feinstem Grün (heuig, algig, butterblumig) in der Nase