Ok, ich gebe es zu: ich bin introvertiert.
Man erkennt das gut an zwei Dingen, die ich besonders liebe: lesen - und meditieren.
Richtig köstlich wird es aber für mich, wenn ich beides miteinander verbinde!
Das nennt man dann kontemplatives Lesen.
Langsamkeit als Methode
Wie das geht?
Ganz einfach!
Nicht schnell.
Nicht viel.
Sondern: Bissen für Bissen!
Beim kontemplativen Lesen nimmst du einen Text (z.B. ein Gedicht, ein Zitat, ein Gebet oder einen anderen gehaltvollen Text) und liest ihn ganz bewusst langsam.
Der Text als Mahlzeit
Du nimmst sozusagen nur ein kleines Häppchen auf die Gabel.
Ein besonders leckeres Essen, an dem du vielleicht lange gekocht hast, willst du ja auch nicht schnell runterschlucken.
Wäre schade drum.
Eben!
Also. Probier es doch gleich aus!
Hol dir ein gutes Buch aus dem Regal.
Schlag es auf. Irgendwo.
Und lies ein paar Wörter.
Ein paar Zeilen. Höchstens ein Absatz. Oder zwei.
Und diesem Häppchen widmest du nun deine ganze Aufmerksamkeit. Mit voller Hingabe.
Langsam kauen!
Beim Lesen selbst achtest du darauf, innerlich gesammelt zu sein. Bei dir zu bleiben.
Zwischendurch: innehalten. Atmen.
Den Text: sorgfältig kauen. Die einzelnen Sätze. Die einzelnen Wörter!
Lass dir Zeit!
Lass sie dir auf der Zunge zergehen!
Schmeck ihnen nach.
Was macht der Text mit dir?
Dann spüre nach:
Was löst der Text in dir aus?
Was klingt in dir an?
Du wirst zum Klangkörper
Nun wirst du praktisch selbst zum Resonanzkörper, in dem der Text nachhallt.
Wenn du magst, kannst du den Text auch halblaut sprechen oder murmeln, sodass du die Schwingung der Worte im Mund, in der Brust und vielleicht sogar im ganzen Körper spüren kannst.
Du kannst einzelne Worte oder Passagen natürlich wiederholen. Dann wird der Text zur Massage.
Bleib dabei aber immer offen, neugierig, aufmerksam und wach: Was löst der Text in dir aus?
Welche Gefühle und Gedanken tauchen auf?
Wie reagiert dein Körper?
Wo im Körper kannst du welche Reaktion, welches Gefühl beobachten?
Wichtig: Lass deinen Verstand mal ausnahmsweise Pause machen. Es geht nicht darum, den Text “zu verstehen” und ihn “zu analysieren”. Stattdessen interessiert uns jetzt vor allem die Frage: Was macht der Text mit mir?
Auf diese Weise kannst du mit ihm in Beziehung treten.
Als wäre er ein lebendiges Wesen.
Als wäre er ein Spiegel.
Als wäre er ein Gebet.
Und du wirst zu seinem Klangkörper.
Was klingt da in dir an?
Nachklang
Wenn du magst, dann kannst du mir gerne von deiner Lesemeditation berichten. Wie ist es dir ergangen? Welcher Text war besonders lecker? Was hat dir am meisten geholfen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen?
Schreib einfach einen Kommentar. Gleich hier drunter.
Oder, wenn es dir lieber ist: Schreib mir ein kurzes Mail. Das lasse ich mir dann auch auf der Zunge zergehen, versprochen!
Kalligraphie: “Der große Weg hat keinen Namen.”
Vielen Dank für die Anregung!
Hin zum Bücherregal mit den Gedichtbänden, ein Gang der seltener geworden ist in Zeiten von Internet und Mediatheken, „zufällig“ stehen die Bücher von Rainer Kunze in Augenhöhe!
„eines jeden einziges leben“, ein Gedichtband veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag 1994. Seite 22:
IM MORGENGRAUEN
Der hahn mäht schlaf
So fein gedängelt ist sein schrei, daß durch die
schneide
Der fingernagel schimmert
Des traums
Du hoffst, daß sich der hahn entfernt
zu anderen müdigkeiten
und auf der deinen
dichtes grummet wächst
Diese Wortbilder haben für mich gleichzeitig eine ungeheure Leichtigkeit und Tiefe, sind so gut nachfühlbar! Unglaublich!
Da beobachtet jemand sehr genau und findet für die Verknüpfung des im „Außen“ Wahrgenommenen und im „Inneren“ Bebilderten und Erfühlten für meine Begriffe genau die treffenden Worte!
Für mich ist das Lesen ein Vergnügen, eine tiefe Freude! Das Lesen weckt Erinnerungen an eine jahrzehntelang zurückliegende Zeit, in der Bücher, Texte, Gedichte oft der einzige Trost, der einzige Hoffnungsschimmer waren!
Und das Veblüffende jetzt, die Texte von Rainer Kunze wirken bei mir immer noch, immer wieder! ;)