Was entsteht, das vergeht
Ein Gruß aus Indien zur Wintersonnwende
Im Schatten südindischer Palmen habe ich gestern Buddhas erste Lehrrede gelesen, die er nach seiner Erleuchtung gehalten hat.
Darin erzählt er fünf anderen Weggefährten von seinen wichtigen Erkenntnissen und erklärte ihnen den Achtfachen Pfad und die Vier Edlen Wahrheiten.
Noch während Buddha sprach, ging auch einem der fünf, Kondañña, plötzlich selbst ein Licht auf, und er sagte:
„Alles, was entsteht, vergeht.“
Das klingt jetzt zunächst vielleicht unscheinbar.
Aber ich möchte dich bitten, dir diese Worte etwas länger bei dir zu behalten.
Am besten hörst du jetzt vielleicht sogar erst mal auf zu lesen.
Nimm dir Zeit.
Lass es wirken.
Wenn du magst, dann lies später weiter.
„Alles, was entsteht, vergeht.“
So ein simpler Satz.
Und du kannst dieses Werden und Vergehen selbst überall beobachten.
Es ist allgegenwärtig.
Nimm nur einmal dieses Jahr her.
Heute ist Wintersonnwende.
Ab heute werden die Tage wieder länger. Ein neues Jahr beginnt.
Die Erde – genauer gesagt: die Nordhalbkugel –
atmet wieder ein.
Ein neuer Zyklus des Wachstums beginnt,
um sich ein halbes Jahr später wieder umzukehren.
Dann atmet die Nordhalbkugel wieder aus.
Ähnliche Zyklen haben ganze Zivilisationen.
Denn ganz egal, wie gradios sie sein mögen:
Sie alle entstehen, haben einen Höhepunkt –
und vergehen.
Sie kommen.
Und sie gehen.
Wie die Wellen am Ufer des Ozeans,
an dem ich gerade sitze.
Nur die Frequenz ist unterschiedlich.
Das Muster ist dasselbe.
Ein Atemzug.
Ein Tag.
Ein Jahr.
Ein Leben.
Eine Zivilisation.
Ein Sonnensystem.
Das Universum.
Mageren Jahren folgen manchmal fette Jahre.
Und umgekehrt.
Überfluss und Mangel.
Wenn wir nichts haben,
sehnen wir uns nach etwas.
Wenn wir etwas haben,
fürchten wir uns davor, es zu verlieren.
Gleichzeitig erleben wir,
dass uns der Überfluss fett und träge macht.
Und unzufrieden.
Manche sind davon so frustriert,
dass sie das Glück am anderen Ende suchen:
in der Askese.
Im radikalen Verzicht.
Und treiben es so weit,
dass sie (fast) verhungern.
Buddha hat beides ausprobiert.
Und schließlich den mittleren Weg entdeckt.
„Wieviel ist genug?“
Das ist die Frage des mittleren Weges.
Der mittlere Weg
Keine völlige Entsagung.
Aber möglichst wenig brauchen.
Mit wenig zufrieden sein.
Sich fragen, was wirklich wesentlich ist.
Und sich aus ganzem Herzen an dem erfreuen,
was uns gerade geschenkt ist.
Das ist Dankbarkeit.
Sich erfreuen –
aber nichts festhalten.
Im Wissen,
dass alles, was ist,
ohnehin nur temporär ist.
Geliehen, sozusagen.
Früher oder später
müssen wir es zurückgeben.
Früher oder später müssen wir alles zurückgeben.
Unsere Gesundheit. Unsere Familie. Unsere Freunde.
Und unseren Besitz sowieso.
Das letzte Hemd hat keine Taschen.
An nichts festhalten.
Sich immer bewusst sein,
dass alles fließt.
Nichts bleibt.
Was entsteht, vergeht.
Und doch hindert mich diese Einsicht nicht daran,
die Schönheit dieses Moments wertzuschätzen.
Mich an der Sonne zu erfreuen.
Am Wind.
Am Wasser.
An den Bergen.
Am Atem.
An meinem Körper.
An der Natur.
An den Sternen.
An der Vielfalt der Erscheinungen.
Nicht Optimierung ist das Ziel.
Nicht Maximierung des Besitzes.
Wenn es stimmt, dass alles fließt,
dann geht es darum, mitzuschwingen.
Mitzufließen.
Und wenn es ums Mitfließen geht,
dann geht es um Regulation.
Um die Regulation meiner Beziehungen.
Meiner Beziehung zu mir.
Zur Welt.
Zum Sein.
Regulation bedeutet:
in Verbindung sein.
In Beziehung.
Einatmen.
Ausatmen.
Mich bewegen.
Mich ausruhen.
Essen.
Verdauen.
Arbeiten.
Schlafen.
Und auch:
Nachrichten verdauen.
Eindrücke.
Gespräche.
Erwartungen.
Wenn alles fließt,
wird klar, dass wir nichts festhalten können.
Festhalten ist vergeblich.
Und wenn wir es trotzdem versuchen,
müssen wir: leiden.
Das ist unvermeidlich.
Was vermeidlich ist,
ist unsere Neigung, festzuhalten.
Wie können wir das lockern?
Wie können wir das Lösen üben?
Indem wir bemerken,
wann wir innerlich die Faust schließen.
Und indem wir beginnen,
auf unsere inneren Formationen zu achten.
Indem wir die Kerze der Achtsamkeit entzünden
und betrachten,
was in unserem Geist entsteht
und vergeht.
Welche Geisteszustände tauchen gerade auf?
Vielleicht ist das das Edelste und Vornehmste,
was wir in unserem Leben tun können:
Uns nicht darauf zu konzentrieren,
wie wir möglichst viel anhäufen.
Wie wir Ruhm und Anerkennung erlangen.
Denn auch das ist flüchtig.
Es wird nicht anhalten.
Was wir aber kultivieren können,
ist die uns allen innewohnende Fähigkeit zur Bewusstheit.
Bewusstheit dafür,
was gerade auftaucht.
Und was wieder vergeht.
Bewusstheit ist diese wundersame Gabe,
mit Klarheit, Gelassenheit
und liebevoller Nachsicht
das Werden und Vergehen zu betrachten.
Materielle Formationen.
Und geistige.
Wir sind tatsächlich in der Lage,
uns ein Stück weit
von Verlangen und Ablehnung zu lösen
und einfach nur Zeuge zu sein.
Ohne uns zu verfangen.
Ohne zurückzuweisen.
Ohne Erwartung.
Unseren Platz in der Welt einnehmen.
Einfach nur sein.
Und betrachten.
Und staunen.
Was taucht gerade auf?
Was vergeht?
Nichts zurückweisen.
Nichts festhalten.
Das ist der große Lotossitz.
Erstaunlich,
wie wenig es dazu braucht.
Erstaunlich,
wie wenig es braucht,
um so zu leben.
Erstaunlich,
wie viel einfacher das Leben wird,
in diesem Modus.
Eine kleine Erinnerung
Alles, was du „hast“, ist geliehen. Temporär.
Gräme dich nicht darüber, was du verlierst oder nicht bekommst.
Freu dich an dem, was gerade ist. Ein Sonnenstrahl. Ein Atemzug.
Sei dankbar. Nichts ist selbstverständlich.
Je weniger du brauchst, desto freier bist du.
(Aber übertreib die Askese nicht.)
Geh den mittleren Weg.
Setz dich auf den Lotossitz.
Vielleicht ist das genug für heute.
Danke, dass du mir bis hierher gefolgt bist.


