Der Pfeil, der alle Ziele trifft
Ein Jäger kommt bei der Hütte eines Einsiedlers vorbei. Er trägt einen Köcher mit Pfeilen.
Der Einsiedler fragt den Jäger: “Warum hast du so viele Pfeile?”
Der Jäger antwortet: “Nun, das Leben ist unberechenbar. Mal ist das Ziel nah, mal ist es fern. Mal begegne ich einem großen Tier, und mal einem kleinen. Mal weht der Wind von Westen, dann wieder von Norden. Für jede Situation brauche ich den passenden Pfeil.”
Der Einsiedler lächelt und sagt: “Hast du gewusst, dass es einen Pfeil gibt, der alle Ziele trifft?”
“Unmöglich”, entgegnet der Jäger. “Kein Pfeil kann gegen jeden Wind bestehen, jede Entfernung überbrücken, jedes Ziel treffen.”
“Doch”, sagt der Eremit sanft. “Aber dieser Pfeil fliegt nicht nach außen. Er zielt nach innen.”
Diese Geschichte hat uns Kobun einmal auf einem Sesshin in Puregg erzählt. (Oder zumindest erinnere ich mich so an sie.)
Und dieser faszinierende Gedanke hat mich seither nie mehr losgelassen: Die Idee des einen Pfeils, der alle Ziele trifft.
Wie einfach, klar und elegant das ist.
Und wie kompliziert hingegen unser Leben!
„Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten,
verdoppelten sie ihre Anstrengungen."
Kennst du das? Mehr Tools, mehr Techniken, mehr Strategien - aber irgendwie wird alles nur komplizierter?
Ein Kompass für die offene See in uns
Heute möchte ich gerne ein kleines aber wirkungsvolles Navigationsinstrument mit dir teilen.
Es handelt sich um einen Kompass. (Die Anregung dazu verdanke ich der Arbeit der Wissenschaftlerin Vanessa Machado de Oliveira, deren Ansätze ich hier für meine Zen-Praxis adaptiert habe.)
Es ist aber kein äußerer, sondern ein innerer Kompass. Sozusagen für die offene See, die sich in uns befindet.
Das sind die vier Himmelsrichtungen von unserem Kompass:
Norden = Berg = Körper = körperliche Coolness
Norden steht in diesem Kompass für Nüchternheit, Coolness, Gelassenheit. Und zwar auf der körperlichen Ebene.
So, wie ein Berg unbeeindruckt ist vom aktuellen Wetter, vom Wind, von den Wolken.
Er sitzt einfach nur da.
Ist Berg. Ein riesiger Körper, der sich nicht bewegt. Zumindest nicht sichtbar.
Genau so, wie auch wir bei der Sitzmeditation einfach nur so da sitzen.
Aufrecht. Unbewegt.
Unbeeindruckt vom Lärm und von der Aufregung in uns und um uns herum.
Wir sitzen fest auf dem Boden. Ohne uns zu bewegen. Ohne zu wackeln. Genießen es, Berg zu sein.
Und bieten großzügig Platz und Lebensraum für alle möglichen Wesen, die sich hier ansiedeln wollen. Die kommen und gehen, während wir einfach nur da sind.
Westen = Wasser = emotionale Gelassenheit
Der Westen steht bei unserem Kompass für das Element Wasser. Für Dynamik, Gefühle und Emotionen.
Ähnlich, wie wir es schon vom Berg kennen, geht es auch hier um eine Art von Gelassenheit. Es ist aber keine statische Gelassenheit, sondern eine in Bewegung. Ein dynamisches Umgehen mit den emotionalen Stürmen, denen wir manchmal ausgeliefert sind.
Es bedeutet, schwierigen Situationen nicht auszuweichen, sie nicht zu verdrängen oder zu ignorieren, sich von ihnen aber auch nicht verwirren zu lassen.
So bleiben wir auch bei der Meditation ganz flexibel, wenn starke Gefühle auftauchen. Und können sie als das betrachten, was sie sind. Angenehm. Unangenehm. Neutral.
Und können ihnen zuhören und von ihnen lernen.
Osten = Wind = langfristige Verantwortung
Der Osten steht für Wind. Luft. Das wiederum ist eine Metapher für Gedanken. Konzepte. Ideen. Vorstellungen. Sie sind noch weniger greifbar als Gefühle. Noch subtiler. Aber deswegen nicht weniger mächtig! Im Gegenteil!
Auf unserem Kompass steht der Osten für Verantwortung. Für Langfristigkeit.
Wir übernehmen Verantwortung dafür, wo uns unser Denken und Handeln langfristig hinführen. Welches Erbe wir einmal hinterlassen werden.
Diese Himmelsrichtung zeigt uns, wie subtil aber doch umfassend wir mit allem um uns herum verwoben sind. Wir beeinflussen. Und werden beeinflusst.
Süden = Sonne = Klarheit + Reife
Der Süden steht für Sonne. Licht. Wärme. Kraft.
Und für Klarheit. Und Reife.
Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, dann sind wir an einem Punkt im Tagesablauf, wo wir - hoffentlich - maximalen Überblick und Klarheit haben.
Wir erkennen, was wirklich zählt und was wirklich von Bedeutung ist.
Ohne aber in ein simplifizierendes Schwarz-Weiss-Denken zu verfallen. Ohne unzulässig zu verallgemeinern.
Wir können differenziert auf das Leben und die Welt blicken. Und sind mit uns und der Welt in Frieden.
Dein Kompass zum Mitnehmen
Zurück zu unserem Jäger: Zen-Geschichten enden meist damit, dass jemand eine spontane, tiefe Einsicht hat. Unserem Jäger wurde höchstwahrscheinlich irgendwann klar, was der Einsiedler ihm sagen wollte.
Aber!
Ganz wichtig!
Was diese Geschichten immer beschreiben, ist keine rein intellektuelle Erkenntnis im Sinne von Wissen, sondern etwas, das viel tiefer geht: Bewusstsein.
Eine solche Begegnung führt im Idealfall zu einer tiefen persönlichen Einsicht. Zu einer Erkenntnis, die viel tiefer geht als einfach nur ein Häppchen Wissen oder ein ansprechendes Konzept.
Es geht um eine Erkenntnis, die uns berührt und in unserem Innersten erschüttert.
Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Weisheit!
Danach hat sich etwas ganz Grundlegendes verändert: Die Art und Weise, wie wir die Welt sehen. Und wie wir uns selbst sehen.
Ein grundlegender Perspektivwechsel hat stattgefunden. Wir sehen mit neuen Augen.
Auf unserem Weg der Erkenntnis kann ein kleines Navigationsinstrument hilfreich sein. Und für mich ist es dieser innere Kompass, den ich sehr hilfreich finde.
Hier habe ich dir meine Version dieses Kompasses nochmals gezeichnet. Wenn du magst, dann kannst du ihn hier herunterladen und ausdrucken. Und damit ein bisschen experimentieren.
Und wenn du das nächste Mal Orientierung auf offener See brauchst, dann schau doch vielleicht mal auf deinen Kompass.
In welche Richtung zeigt seine Nadel? Was ist jetzt gerade angesagt? Die Stabilität des Berges (Norden)? Die Flexibilität des Wassers (Westen)? Die Weitsicht des Windes (Osten)? Oder die Klarheit der Sonne (Süden)?
Und wenn du ganz genau hinschaust, dann siehst du vielleicht diese aufsteigende Spiralbewegung: Von der körperlichen und emotionalen Gelassenheit über die Verantwortung zur gereiften Klarheit.
Alles Gute auf deinem Weg!
Lieber Manfred, danke für den Kompass!
"Kennst du das? Mehr Tools, mehr Techniken, mehr Strategien - aber irgendwie wird alles nur komplizierter?", oh ja, kenne ich! Dieses bedrängende Gefühl, dass das wohl niemals aufhört! Innerer Widerstand...
Aber Selmi Enkeltochter kann auch drängend sein, wenn sie immer und immer wieder fragt: "Und was machen wir jetzt? Und jetzt?...". Beide Welten bringen Anstrengung mit sich, die eine stresst, die andere bringt tiefe Freude. Es liegt wohl an der inneren Beteiligung, an den Beziehungen, oder? Wie gelingt es, gerade die stressigen Dinge, bei denen sich so schnell das Gefällt-mir-nicht regt, wirklich anzunehmen...und wieder loszulassen;)? Ich schaue mal zum Kompass....
Herzliche Grüße
Thomas